Auf den Punkt gebracht


Liebe Leserinnen und Leser
"Wir deuten, was uns angeht, dessen Bewandtnis aber nicht offen zutage liegt" – so schreibt der Philosoph Dieter Henrich (Fluchtlinien, 1981, 11) und ergänzt: "Schriftzeichen und Tierspuren werden nicht gedeutet. Sie werden gelesen." Gedeutet wird, was nicht zur vertrauten Umwelt gehört, sondern das, was zwar verlässlich erscheint, aber nicht in voller Klarheit zutage tritt, also – bei allen Unterschieden – z.B. die Sternkonstellationen für die Astrolog*innen, der Vogelflug für Augur*innen oder Träume für Analytiker*innen. Was heisst das für uns psychiatrisch-psychotherapeutisch Tätigen?
Wer deutet, betrachtet das Gedeutete als etwas, das dunkel, aber vielsagend ist und auf eine verborgene Bewandtnis hin zu entschlüsseln – oder sagen wir besser – zu verstehen gesucht wird. Wir Menschen stehen uns in solchen auf Verstehen ausgerichteten Beziehungen gegenüber; ja mehr noch: Wir stehen zu uns selbst in einer solchen, zu deutenden Beziehung.
Menschen, die sich in die Psychiatrie begeben, eingewiesen werden – freiwillig oder unfreiwillig – oder Menschen, die psychotherapeutische Hilfe suchen – sie alle sehen sich zu diesem Schritt entweder gezwungen, weil sie nicht mehr weiterwissen oder weil andere, die mit ihnen nicht mehr weiterwissen, sie auffordern, drängen oder gar zwingen.
Diese Menschen kommen mit Verunsicherungen, mit Symptomen, mit einem «Verlust einer natürlichen Selbstverständlichkeit» (Blankenburg) oder Gefühlen der Sinnlosigkeit, die sie des Lebens überdrüssig werden lassen. Dabei passiert etwas Besonderes: Als Subjekte des Leidens wenden sie sich an uns Therapierende und werden zu Subjekten des Sprechens, die sich mit Fragen an uns wenden: "Was stimmt nicht mit mir?", "Was hat das zu bedeuten?" (vgl. Christian Kläui, Psychoanalytisches Arbeiten, 2008, 38ff.).
Diese Wendung von Leidenden zu Sprechenden macht sie in gewisser Weise zu «Philosophen wider Willen» (Alice Holzhey-Kunz, Daseinsanalyse, 2014), indem am Anfang nicht mehr allein das Leiden, sondern existentielle Fragen stehen. Menschen wenden sich in ihrem Leiden als Fragende an uns.
Wie begegnen wir solchen Fragenden? Ärztlich-psychiatrisch, indem wir einem Patienten, der sagt, sein Leben mache keinen Sinn und er glaube nicht, dass das Gespräch daran etwas ändern könnte, antworten, dies sei Ausdruck seiner Depression, ein Symptom, das im Verlauf der Therapie verschwinden werde? Oder bleiben wir offener und antworten, dass wir die Frage hören, ob wir denn glaubten, dass es Sinn machen könnte, eine Therapie zu beginnen, um gemeinsam etwas zu erreichen?
Wir würden bei dieser zweiten Antwort nicht einfach über Symptome, also z.B. die Sinnlosigkeit sprechen, sondern würden selbst Teil des Problems. Denn unser Gespräch wäre selbst von der Sinnlosigkeit tangiert, diese würde performativ und ereignete sich im Hier und Jetzt (s. Kläui, a.a.O., 30f.). Und damit geht sie uns jetzt etwas an und hat eine Bewandtnis, die nicht einfach klar zutage tritt.
So ist ein deutendes Verstehen gefordert, ein sinngebendes seitens der Patient*innen. Therapeutisch bedingt dies eine Offenheit gegenüber anderen, die nicht gleichzusetzen ist mit Empathie. So sehr es letztere braucht – wir sollten nicht zu schnell zu glauben wissen, worum es geht. Menschen wenden sich nicht (immer und unbedingt) an uns als jene, die glauben, die Welt zu verstehen. Dies wäre ein Anfang.
Frohe Festtage und einen guten Anfang im neuen Jahr!
Herzliche Grüsse
PD Dr. med. Dr. phil. Daniel Sollberger