Auf den Punkt gebracht


Chefarzt Schwerpunkt Psychotherapie und psychosoziale Therapien
Liebe Leserinnen und Leser
Zu wenig Zeit für zu viel Welt. Dieser Kerngedanke des Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg (vgl. «Lebenszeit und Weltzeit», 1986) bringt eine Problematik unserer Zeit auf den Begriff. Und zwar setzte er dem hippokratischen Dilemma eines kurzen Lebens nicht bloss die langen Zeiten von Kunst und Wissenschaft entgegen («vita brevis, ars longa»), sondern weit mehr die Weltzeit. Sie ist der immense Gegenspieler unserer irdischen Zeitverhältnisse, welche den «konstitutiven Zeitmangel des Organismus Mensch» in aller schroffen Evidenz vor Augen führt.
Unser Alltag zeigt – oder angesichts der Coronavirus-Pandemie vielleicht besser: zeigte – eine eigentümliche Kombination von Beschleunigung und Zeitvergessenheit. Auf der einen Seite leben wir zumeist im Vergessen darüber, dass wir sterblich sind und unsere Zeit in diesem fundamentalen Sinn begrenzt ist. Schwere Krankheiten, Todesfällen in Familie, Freundes- oder Bekanntenkreis und andere Schicksalsschläge lassen uns von Gefühlen erfassen, die sich zwischen Erschrecken, Entsetzen, Angst, Ohnmacht, Traurigkeit oder Verzweiflung bewegen.
Mit der vielleicht erstmals in der Geschichte der Menschheit von praktisch allen Menschen dieser Erde wahrgenommenen Fragilität, wie sie durch die globale und sie in ihrer bisherigen Ordnung erschütternden Pandemie zum Ausdruck kommt, wird die eigene Endlichkeit und unsere Sterblichkeit als Kollektiverlebnis erfahren: unsere Conditio humana, die uns zu einer Gemeinschaft macht.
Auf der anderen Seite sind – oder vielleicht besser: waren – wir fast jeden Tag mit der Begrenztheit unserer Zeit konfrontiert. Immer weniger Zeit für immer mehr Welt, so das Diktum Hans Blumenbergs und so unsere Erfahrung der kollektivneurotischen Divergenz von begrenzter Lebenszeit und unbegrenzter Weltzeit. Was tun, wenn immer weniger Zeit für immer mehr Möglichkeiten und Wünsche zur Verfügung steht? Unsere bisherige Lösung für dieses Problem bestand in der Intensivierung der Realität pro Zeiteinheit, also in einer Beschleunigung. Stichworte dazu sind: „Multitasking“ und „Digitalisierung“.
Die Pandemie, die viele von uns unter Quarantäne oder in Selbstisolation gesetzt hat, führt im Positiven nicht nur zu einem Entwicklungsschub digitaler Medien, zu kreativen Lösungen sozialer Annäherung unter dem Verdikt physischer – und häufig eben doch auch sozialer – Distanz. Sie gibt ebenso (Zeit-)Räume frei, um grundsätzlich über das nachzudenken, was gerade passiert und über das, was zu dem geführt hat, was gerade passiert und was dieses bewirken wird.
Wird die Pandemie-Erfahrung und die durch den Lockdown erlebte Entschleunigung etwas daran ändern? Wie wird unsere Gesellschaft aussehen? Rückkehr zur «Normalität», also zum Alten? Und wenn eine zweite Welle uns trifft? Werden existentielle Ängste und Resignation sich ausbreiten, werden sich soziale, ressourcenbedingte Ungleichheiten vertiefen? Oder werden wir, wie der Philosoph Markus Gabriel es formulierte, eine «metaphysische Pandemie» brauchen, «eine Versammlung der Völker unter dem uns alle umfassenden Dach der Erde» – die Grundlage für eine kollektive Solidarität? Wann wird es enden? Wie wird es enden? Wird es enden? Wir wissen es nicht. Als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wissen wir aber, wie wichtig es ist, einen Rahmen zu haben, den wir uns in dieser Zeit von Ungewissheiten schaffen müssen. Dies wird uns auch in der Psychiatrie und in der Begegnung mit Menschen, die durch die Pandemie und ihre Folgen psychisch betroffen, ja, überfordert sind und Hilfe suchen, nachhaltig herausfordern. Mehr zu diesen Gedanken finden Sie in meinem Artikel "Endlichkeit und Entschleunigung" .
Herzliche Grüsse
Daniel Sollberger