Psychische Gesundheit von Ukraine-Geflüchteten


Sprechstunde Traumafolgestörungen

Neue Station für Essstörungen und Krisenintervention

Psychische Erkrankungen vermeiden
Flüchtende aus der Ukraine sind auch in unserer Region angekommen. Wir therapeutische Fachpersonen sind gefordert, zur Linderung und Bewältigung der Not beizutragen.
Trauma und Flucht sind schrecklich und können Teil unseres Lebens sein. Traumafolgestörungen sind Folgen von schrecklichen Erlebnissen und "normale" menschliche Reaktionen auf "nicht normale" Ereignisse. Viele Menschen erleben in ihrem Leben Traumata, doch nicht jeder Mensch entwickelt eine Traumafolgestörung.

Traumata entstehen aus einem Prozess
Traumatisierung kann als prozesshaftes Geschehen verstanden werden, welches von individuellen, interpersonellen und kontextuellen Faktoren abhängig ist. Entsprechend sind nicht nur das sogenannte Kerntrauma als auslösendes Moment, sondern auch darauffolgende Umweltbedingungen wie Flucht und Exilerfahrung für traumatische Pathogenese und Traumaverarbeitung relevant (Keilson, 1991).
Grundsätzlich ist jeder Mensch einzigartig, alle traumatischen Erlebnisse werden individuell verarbeitet und die unmittelbaren Bedürfnisse sind entsprechend unterschiedlich. Dennoch wissen wir aus der Forschung zu traumatischer Gewalt und deren Folgen für die psychische Gesundheit, dass gewisse Einflüsse auf die Verarbeitung von traumatischen Situationen wichtig sind (Maercker & Augsburger, 2019a).
Einflüsse auf das Trauma
Die prä-traumatischen Faktoren betreffen konstitutive Faktoren, Beziehungserfahrungen und Entwicklungsprozesse eines Menschen. Das Alter, die Lebenssituation beim Auftreten von Traumata und die Expositionsdauer spielen eine gewichtige Rolle, wobei in Bezug auf die Traumaexposition grundsätzlich gilt: je mehr, je früher und je länger, desto schwerwiegender sind die zu erwartenden Folgen für Betroffene.
Arten von Traumata und Reaktionen darauf
Auch die Art des traumatischen Erlebnisses ist zentral, wobei die durch Menschen verursachten Gewalterfahrungen und das Ausmass der psychischen Versehrung, wie aktuell in der Ukraine, besonders schwer zu verarbeiten sind (Kessler et al., 2017; Kaysen et al., 2010; Ozer et al., 2003).
Bedeutsam ist ebenso die peri-traumatische Reaktion jeder und jedes einzelnen – reagiert jemand mit Angst und Flucht und ist dabei in dem Sinne erfolgreich, dass er oder sie das „Kampfgebiet“ physisch unversehrt verlassen konnte, wird eine andere Verarbeitung möglich sein, als es der Fall ist bei einem hilflosen Verharren in dem Grauen, wie wir dies aktuell aus den belagerten ukrainischen Städten berichtet bekommen. Letzteres ist für die Betroffenen häufig mit dissoziativen Phänomenen verbunden (Ozer et al., 2003).
Für eine Verarbeitung traumatischer Erfahrungen sind auch die subjektiven Bewertungen der Überlebenden im Rückblick bedeutsam: Wird der „Kampf“ für die Ukraine als sinnvoll und als Verteidigung von Werten der Demokratie und der Selbstbestimmung gesehen (Başoğlu et al., 1997)?
Schützende Faktoren
Versteht man Traumatisierung aus subjektiver Perspektive als vital bedrohliches Widerfahrnis, das "mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt" (Fischer & Riedesser 2020), wird die tiefgreifende Auswirkung von Traumatisierung auf das Beziehungserleben deutlich.
Gleichzeitig wird die zentrale Rolle sicherer und Halt gebender Beziehungen für den Traumaverarbeitungsprozess evident (vgl. Keilson, 1991). Stabile und hilfreiche Beziehungserfahrungen, sozio-ökonomische Sicherheit, soziale Inklusion (statt Diskriminierung und Stigmatisierung) (Schneider et al., 2018), sowie Sicherheit für zurückgebliebene Angehörige und nahestehende Personen (Li et al. 2016), stellen für die Kriegsbetroffenenpost-traumatisch protektive Faktorendar.
Dabei kommt der gesellschaftspolitischen Haltung gegenüber Geflüchteten, aber auch die Anerkennung psychosozialer Schwierigkeiten im Hier und Jetzt des Exilkontextes (Varvin, 2013) und insbesondere auch im Gesundheits- und Sozialsystem des Aufnahmestaats, eine wichtige Rolle zu (Brewin et al., 2000; Ozer et al., 2003).
Wichtig für die Traumaverarbeitung
Nach der Ankunft in einem „sicheren“ Umfeld gibt es verschiedene Prioritäten und individuelle Bedürfnisse. Neben der menschlichen Begegnung geht es zunächst um die Sicherung basaler Bedürfnisse wie Gesundheit, Nahrung, Ruhe mit Rückzugsort und Schlaf (Nash & Watson, 2012). Da Traumata Kontrollverlust und hilfloses Ausgeliefertsein bedeuten, ist es zentral, Kontrolle und Selbstermächtigung zu ermöglichen und ein basales Sicherheitsgefühls zu vermitteln (Fischer & Riedesser 2020).
Dabei ist wichtig, den Betroffenen Klarheit und Transparenz, Orientierung und Sicherheit zu bieten. Dazu gehört für uns freiwillige, aber auch professionelle Helferinnen und Helfer, die eigene Funktion und deren Grenzen zu klären, bedarfsweise also auch an Fachstellen weiter zu vermitteln.
Die Wege der Unterstützung sind vielfältig und der Bedarf ist individuell: Behördengängen, gemeinsames Kochen und Spielen, Sprachkurse, die Behandlung körperlicher und psychischer Leiden, finanzielle Sicherheit, Bildung etc. Brachliegende Ressourcen der Betroffenen zu fördern und sinnstiftende Tätigkeiten zu ermöglichen, ist ein besonderer Stellenwert einzuräumen.
Auf die eigenen Ressourcen achten
Ebenfalls dürfte an dieser Stelle wichtig sein, als helfende Person eigene Handlungsimpulse dahingehend zu reflektieren, ob sie als nachhaltige und dauerhafte Unterstützung der Betroffenen aufrecht erhalten werden können. Wie die persönlichen Ressourcen einzuordnen sind, sollte vorgängig evaluiert werden, um auch nachhaltig hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt ist aus Perspektive der Hilfspersonen auf Selbstfürsorge zu achten. Gegenseitiger Austausch und eine gute Vernetzung sind dabei essentiell.
Literatur
- Başoğlu, M., Mineka, S., Paker, M., Aker, T., Livanou, M., & Gök, Ş. (1997): Psychological preparedness for trauma as a protective factor in survivors of torture. Psychological medicine, 27(6), 1421 -1433
- Brewin, C. R., Andrews, B., & Valentine, J. D. (2000): Meta-analysis of risk factors for posttraumatic stress disorder in trauma-exposed adults. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 68(5), 748 - 766, https://doi.org/10.1037/0022-006x.68.5.748
- Fischer, G., Riedesser, P., & Fischer, A. G. (2020): Lehrbuch der psychotraumatologie.
E. Reinhardt
- Kaysen, D., Rosen, G., Bowman, M., & Resick, P. A. (2010): Duration of Exposure and the Dose-Response Model of PTSD. Journal of Interpersonal Violence, 25(1), 63 - 74, doi.org/10.1177/0886260508329131
- Keilson, H. (1991): Sequentielle traumatisierung bei Kindern. Ergebnisse einer follow-up-Unersuchung. In: Schicksale der Verfolgten (pp. 98 -109). Springer, Berlin, Heidelberg
- Kessler, R. C., Aguilar-Gaxiola, S., Alonso, J., Benjet, C., Bromet, E. J., Cardoso, G., Degenhardt, L., de Girolamo, G., Dinolova, R. V., Ferry, F., Florescu, S., Gureje, O., Haro, J. M., Huang, Y., Karam, E. G., Kawakami, N., Lee, S., Lepine, J.-P., Levinson, D., … Koenen, K. C. (2017): Trauma and PTSD in the WHO World Mental Health Surveys. European Journal of Psychotraumatology, 8(sup5), 1353383, doi.org/10.1080/20008198.2017.1353383
- Li, S. S., Liddell, B. J., & Nickerson, A. (2016): The relationship between post-migration stress and psychological disorders in refugees and asylum seekers.
Current psychiatry reports, 18(9), 1 - 9
- Maercker, A., & Augsburger, M. (2019): Developments in Psychotraumatology: A Conceptual, Biological, and Cultural Update. Clinical Psychology in Europe, 1(1), e30294, doi.org/10.32872/cpe.v1i1.30294
- Nash, W. P., & Watson, P. J. (2012): Review of VA/DOD Clinical Practice Guideline on management of acute stress and interventions to prevent posttraumatic stress disorder. Journal of Rehabilitation Research & Development, 49(5)
- Ozer, E J, Best, S. R., Lipsey, T. L., & Weiss, D. S. (2003): Predictors of posttraumatic stress disorder and symptoms in adults: A meta-analysis. Psychological Bull, 129(1), 52 – 73
- Schneider, A., Conrad, D., Pfeiffer, A., Elbert, T., Kolassa, I.-T., & Wilker, S. (2018): Stigmatization Is Associated With Increased PTSD Risk After Traumatic Stress and Diminished Likelihood of Spontaneous Remission–A Study With East-African Conflict Survivors. Frontiers in Psychiatry, 9, 423, doi.org/10.3389/fpsyt.2018.00423
- Varvin, S. (2013, September): Psychoanalyse mit Traumatisierten. In: Forum der Psychoanalyse (Vol. 29, No. 3, pp. 373 - 389), Springer Berlin Heidelberg
