Hilfe nach sexuellen Übergriffen

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Baselland hat immer wieder mit Opfern sexueller Übergriffe zu tun.
Bis Ende 1970 war sexueller Missbrauch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) der Psychiatrie Baselland kaum ein Thema. Ab 1988 stellten wir jedoch einen massiven Anstieg der Anfragen zu diesem Thema fest. Ich war damals noch ziemlich neu in der KJP und hatte viel zu tun mit solchen Fällen.
Verbesserungen dank Opferhilfegesetz
Bis Ende der Achtzigerjahre gab es weder in der Justiz noch in den KJP viel Erfahrung rund ums Thema sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen. Mit dem Opferhilfegesetz 1993 entschärfte sich jedoch die Situation für die Opfer deutlich und brachte erste Verbesserungen.
Das Thema aber ist bis heute ein überaus herausforderndes, da es immer komplexe Fragestellungen mit sich bringt und massive emotionale Reaktionen bei allen Beteiligten auslösen kann. Primär geht es hier immer um den Schutz des Kindes und um die Abwendung einer Kindswohlgefährdung.
Grosse Dunkelziffer
Bei Kindsmisshandlung und Kindsmissbrauch ist die Dunkelziffer sehr gross. Die Folgen können tragisch sein und die Opfer ein Leben lang in fataler Weise prägen. Die Ursachen für die hohe Dunkelziffer sind vielfältig und nicht nur bei den Patientinnen und Patienten zu suchen, sondern auch in deren Umfeld und überhaupt bei allen, die nicht hinschauen, nicht daran denken und nicht beachten, was vor sich geht. So sind wir letztlich alle gefordert, die mit Kindern zu tun haben.
Nur das Wissen um die Vielfalt der Symptome und der Wille zur Kooperation mit Pädiatern, Sozialarbeitern und Kinderschutzgruppen kann für die betroffenen Kinder das Trauma beenden und den Schaden in Grenzen halten.
Die Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Wir in der KJP sind ganz unterschiedlich mit dem Thema konfrontiert. Es geht aber immer und grundsätzlich um den Kinderschutz; egal, ob wir uns in der Rolle als Berater, Experte, Therapeut oder Gutachter befinden. In unserer Rolle als Beraterin oder Berater haben wir gelernt, dass die Vorstellungen und Erwartungen von Betroffenen oft unrealistisch sind und nicht unserer Rechtsprechung entsprechen.
In der Rechtsprechung geht es nach dem Prinzip "in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten". Im Kinderschutz aber geht es nach dem Prinzip "in dubio pro infante – im Zweifel für das Kind". Da es häufig nicht so eindeutige Beweise gibt, ist die Beweissicherung eine grosse Herausforderung. Sie hat auch für uns Therapeutinnen und Therapeuten einige Fallstricke bereit, die wir erkennen müssen.
Vertraut mit der Arbeit der Untersuchungsbehörden
Da wir in der KJP Baselland seit 2003 die Experten stellen für die Befragung kindlicher Opfer zuhanden der Staatsanwaltschaft, sind wir mit der Arbeit der Strafuntersuchungsbehörden sehr gut vertraut und können auch die betroffenen Familien entsprechend aufklären und beraten. Pro Jahr kommt es zu rund 40 derartigen Befragungen im Kanton Baselland.
Aufklärung und Kommunikation wichtig
In der Öffentlichkeitsarbeit ist in den letzten Jahren viel getan worden und das Thema sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen ist weniger mehr ein Tabu wie in früheren Jahren. Wichtig ist dabei die persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema und speziell als Kindertherapeut das entsprechende Bewusstsein und die Offenheit, die es braucht, um bei diesen oft fordernden und emotionsgeladenen Fällen erfolgreich arbeiten zu können. In der Opferarbeit geht es vor allem um Aufklärung, um die Arbeit am Selbstvertrauen, um Scham und Abgrenzung.
Opferschutz dank Früherkennung
In der Arbeit mit den Tätern geht es um Früherkennung und somit auch um Opferschutz, denn jeder Täter, der sein Verhalten ändern kann, ist keine Gefahr mehr für potenzielle Opfer. Neuere Studien zeigen, dass sexuelle Gewalt unter Jugendlichen weit verbreitert ist und dass diese unter Teenagern in der Schweiz verstärkt und differenziert angegangen werden muss.
In der Optimus-Studie zur Kindeswohlgefährdung in der Schweiz (2012 - 2018) gaben 22 Prozent der Mädchen und 8 Prozent der Jungen an, schon mindestens einmal einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben, bei dem es zu körperlichem Kontakt kam. Noch häufiger sind Opfererfahrungen ohne körperlichen Kontakt; das heisst, Vorfälle wie Exhibitionismus, verbale und schriftliche sexuelle Belästigung, das Zeigen von pornografischem Material oder anzüglichen Äusserungen und Handlungen.
Prävention muss früh ansetzen
Täter und Täterinnen im Jugendalter sind überdurchschnittlich oft selbst als Kinder misshandelt worden, einem harschen elterlichen Erziehungsstil ausgesetzt gewesen und hatten weniger Freunde. Eine echte Prävention muss entsprechend früh im Kindesalter ansetzen, womit wir alle gefordert sind, die mit Kindern zu tun haben.